16. Oktober 2010

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Erste Fernfahrt im Automobil
939 Kilometer mit 4 PS

 

In einem Benz VICTORIA bricht Theodor Baron von Liebieg am 16. Juli 1894 von seinem Heimatort Reichenberg in Böhmen (heute Liberec/Tschechien) auf und fährt nach Gondorf bei Koblenz. Was einfach klingt, war ein Abenteuer– die durchschnittliche Geschwindigkeit beträgt gerade mal 13,6 km/h. Während der Reise, die als erste Fernfahrt im Automobil gilt, macht von Liebieg auch einen Abstecher zu Carl Benz nach Mannheim.

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 Benz VICTORIA  VIS-à-VIS aus dem Jahre 1893.

 

Man darf sich die Tour nicht als Spazierfahrt vorstellen: Das Auto ist offener als manche Kutsche, und Fahrer und Beifahrer sind allen Elementen schonungslos ausgesetzt. Die Straßen sind bestenfalls gepflastert, und selbst das ist nicht unbedingt angenehm.

 

Die Fahrzeugtechnik funktioniert zwar aus damaliger Sicht höchst zuverlässig, doch stellt sie dennoch immer wieder Herausforderungen, die damals alltäglich waren, wie beispielsweise ein überschwemmter Vergaser, gelockerte Muttern und das Justieren der Zündkontakte.

 

Und Benzin gibt es nicht bequem an der Tankstelle, sondern nur in Apotheken und Drogerien – der Treibstoffverbrauch liegt bei rund 21 Litern auf 100 Kilometer. Bemerkenswert ist auch der Wasserverbrauch des offenen Kühlsystems von etwa 150 Litern je 100 Kilometer. Die Höchstgeschwindigkeit des Benz VICTORIA beträgt 20 km/h.

 

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 Theodor von Liebieg mit seinem Benz VICTORIA

 

Doch der 22-jährige von Liebieg (geboren 15. Juni 1872, gestorben 24. Mai 1939), Sproß einer bedeutenden Textilindustriellenfamilie und selbst Fabrikant, und sein Begleiter, der Freund und Arzt Franz Stransky, meistern die Fahrt und sind sogar äußerst zufrieden, weil alles so reibungslos abläuft. Sie bleiben einen ganzen Monat in Gondorf, dem Wohnsitz von Liebiegs Mutter.

 

Von dort unternehmen sie mit dem VICTORIA mehrere Ausfahrten, unter anderem nach Reims/Frankreich. Am 22. August wird die Rückreise von Gondorf wieder über Mannheim nach Reichenberg angetreten, wo die Herren am 31. August, also neun Tage später eintreffen. Insgesamt bewältigen sie in jenem Sommer 2500 Kilometer.

 

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 Benz VICTORIA  VIS-a-VIS  aus dem Jahre 1893.

 

Der VICTORIA von Liebieg ist ein frühes Exemplar, es trägt die Fabriknummer 76 und steht heute nach einer aufwendigen Restaurierung durch die Spezialisten des Mercedes-Benz Classic Centers im Technischen Nationalmuseum in Prag.

 

Theodor von Liebieg kaufte es persönlich bei Carl Benz und reiste dazu mit 21 Jahren im Oktober 1893 eigens nach Mannheim. Es wird überliefert, daß er Carl Benz schon beim Kauf ankündigte, ihn im Folgejahr mit dem Fahrzeug zu besuchen; Carl Benz soll sich angesichts dieses Plans sehr überrascht gezeigt haben – seine bisherigen Kunden lauschten zwar seinen Ausführungen über den künftigen Siegeszugs des Automobils, doch eine solch weite Reise hatte bisher niemand einem seiner Fahrzeug zugetraut.

 

Der VICTORIA gelangt per Eisenbahn nach Reichenberg, er ist das erste Automobil dort. Baron von Liebieg absolviert nach Einweisung durch einen Benz-Mechaniker eine Probefahrt – und erhält die erste Fahrerlaubnis der Region.

 

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Carl Benz mit Familie und Baron Theodor von Liebieg im Jahre 1894, während einer Autofahrt von    Mannheim nach Gernsheim, mit Benz VICTORIA  und Benz Patent-Motorwagen VIS-à-VIS

 

Baron von Liebieg und sein Begleiter sind so begeistert von der Fernfahrt, daß sie sie ein Jahr später wiederholen. Dabei erreichen sie Gondorf auf direkterem Wege bereits nach vier Tagen. Wieder verbringen sie einen Monat dort und machen einen weiteren Ausflug mit dem VICTORIA nach Reims. Diesmal besuchen sie Carl Benz auf dem Rückweg und bleiben drei Tage; während dieser Zeit wird das Fahrzeug komplett überholt.

 

Mit seinen Fahrten hat Theodor von Liebieg das Vertrauen von Carl Benz gewonnen. Dieser bittet ihn, einen Tourenwagen beim ersten deutschen Rennen Berlin – Leipzig am 20. September 1899 zu fahren. Von Liebieg siegt.

 

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 Benz Victoria "Vis-à-Vis", 1894.

 

Der Benz VICTORIA hat Automobilgeschichte geschrieben. Er ist das erste vierrädrige Fahrzeug mit Achsschenkellenkung, eine der wichtigsten Erfindungen von Carl Benz mit Bedeutung bis zum heutigen Tag.

 

”VICTORIA”, soll Carl Benz gerufen haben, als ihm im Jahr 1893 mit seiner Achsschenkel-Lenkung gelungen war, den beiden Vorderrädern beim Kurvenfahren verschieden große Ausschläge zu geben, und so hieß dann auch das neue Modell.

 

Der Einzylindermotor mit stehendem Schwungrad ist liegend eingebaut, er leistet 1893 beim Debüt des VICTORIA 3 PS, dann, wie im Fahrzeug von Liebieg, 4 PS und später bis zu 6 PS. Der VICTORIA, zeitlebens das Lieblingsauto von Carl Benz, wird bis zum Jahr 1900 gebaut.

 

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 Benz Victoria "Vis-à-Vis" mit Sonnendach, 1894.

 

Nach seinen eigenen Aufzeichnungen nahm Theodor Baron von Liebieg auf dem Benz VICTORIA folgende Strecke:

 

16. Juli: Reichenberg – Zittau – Bautzen – Dresden – Wilsdorf – Waldheim (196 Kilometer in 14 Fahrstunden)

 

17. Juli: Waldheim – Altenburg – Zeitz – Eisenberg (112 Kilometer in 8 Fahrstunden)

 

18. Juli: Eisenberg – Jena – Weimar – Erfurt – Gotha – Eisenach (136 Kilometer in 9 Fahrstunden)

 

19. bis 20. Juli:zweitägige Fahrt ohne Übernachtung: Eisenach – Hünfeld – Fulda – Hanau – Offenbach – Frankfurt – Darmstadt – Lampertheim – Mannheim (282 Kilometer in 26 Fahrstunden)

 

21. Juli: Mannheim – Kreuznach – Bingen – Boppard (173 Kilometer in 10 Fahrstunden)

 

22. Juli: Boppard – Koblenz – Gondorf (40 Kilomter in 2 Fahrstunden)
Gesamtzeit: 69 Fahrstunden für 939 Kilometer

 

 

jwp 17. Januar 2011

 

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